Landesverband Berlin

Sozialarbeiter_innen gegen die Kasernierung Geflüchteter

06.06.2018

Von: DBSH

Die neue Bundesregierung plant die Einrichtung von Ankunfts-, Entscheidungs-, kommunale Verteilungsund Rückführungszentren, oder „AnKER-Zentren“, in denen neu ankommende Geflüchtete ihr Asylverfahren durchlaufen und für die Dauer desselben auch wohnen sollen. Der Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH) wendet sich gegen die Einrichtung solcher Zentren. Das Leben in Massenunterkünften bedeutet eine Verletzung der Grundrechte von Freiheit und Selbstbestimmung und eine Gefährdung des Kindeswohls. Die Beschaffenheit der geplanten Zentren entzieht Asylsuchenden den Zugang zu unabhängigem Rechtsbeistand, öffentlichen Dienstleistungen und ehrenamtlicher Unterstützung. Die Lebensbedingungen der Asylsuchenden sind unter diesen Umständen von Unsicherheit, Gewalt, Repression, Abschiebedruck und fehlender Privatsphäre geprägt. Die soziale Isolation in AnKER-Zentren wird die Integration Geflüchteter in die Zivilgesellschaft und den Arbeitsmarkt erheblich erschweren und die Gesellschaft spalten. Die Umsetzung der derzeitigen Pläne des Bundesinnenministeriums wäre daher kontraproduktiv für geflüchtete Menschen und die Gesellschaft als Ganzes

Gescheitertes Vorbild: Transitzentren in Bayern

Das Vorhaben ist ausschließlich auf die zeitliche Effizienz der administrativen Abläufe (insb. die Möglichkeit der Abschiebung nach der Ablehnung des Asylantrages) ausgerichtet und verletzt die Grundrechte Geflüchteter. Es ist davon auszugehen, dass die von Innenminister Seehofer geplanten Zentren nach dem Vorbild der bayerischen „Transitzentren“ gestaltet werden. Diese wurden während Seehofers Zeit als Ministerprä- sident 2015 eingerichtet. Hier werden Geflüchtete zentral untergebracht, während gleichzeitig ihr Asylantrag bearbeitet wird. Die Transitzentren befinden sich räumlich entfernt vom gesellschaftlichen Leben. Für die Dauer der Bearbeitung des Antrages dürfen Asylbewerber_innen keinen anderen Wohnsitz beziehen. An den Transitzentren gab es in der Vergangenheit bereits massive Kritik, u.a. wurde Kindern der regelhafte Schulbesuch erst nach gerichtlicher Klage ermöglicht. Die AnKER-Zentren bedeuten genau wie die Transitzentren soziale Isolation, keinen Zugang zum Arbeitsmarkt, keinen Zugang zum soziokulturellen Leben und keine Chance auf Integration.

Problematische Selektion nach Bleibeprognose

Nach Medienberichten sollen diejenigen Geflüchteten in AnKER-Zentren untergebracht werden, die aus Ländern stammen, bei denen die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BaMF) errechnete Bleibeprognose unter 50% liegt. Dieses Kriterium legt nahe, dass die Mehrzahl der Geflüchteten ohnehin wieder abgeschoben wird. Das deutsche Asylrecht sieht aber vor, dass die individuellen Asylgründe einer/eines jeden Schutzsuchenden betrachtet werden. So bleiben folglich auch viele Geflüchtete aus Ländern mit einer schlechten Bleibeprognose in Deutschland. Das Herkunftsland Afghanistan hat beispielsweise eine Bleibeprognose von unter 50%, jedoch werden derzeit 60-70% aller Klagen gegen abgelehnte Asylbescheide von Afghan_innen für die Kläger_innen entschieden. Zudem werden zurzeit keine Frauen und Kinder nach Afghanistan abgeschoben. So wird also die Mehrheit der Menschen aus Afghanistan nach ihrer Ankunft länger als nur wenige Monate in Deutschland bleiben, obwohl ihnen keine gute Bleibeperspektive vom BAMF prognostiziert wird. Die Unterbringung von Menschen aus Afghanistan in AnKER-Zentren bedeutet daher, dass sie potenziell jahrelang in Massenunterkünften, fernab von Möglichkeiten der Integration in den Arbeitsmarkt, das Gesundheits- und Bildungssystem festgehalten werden. Auch Geflüchtete, die ohne Papiere nach Deutschland gekommen sind und keine Papiere von ihrer Botschaft bekommen, würden über Jahre isoliert bleiben. Es besteht für die Menschen während des Aufenthalts keine Möglichkeit, die deutsche Sprache zu erlernen oder sich in das gesellschaftliche Leben zu integrieren. Dies macht die so nachdrücklich geforderte Integration von Menschen, die letztendlich doch mehrheitlich das Recht erhalten zu bleiben, um ein Vielfaches schwerer. Politisch unklar ist bis jetzt zudem, was Menschen zu erwarten haben, die eine sogenannte „Duldung“ erhalten.

Verletzung von Grundrechten

Als Sozialarbeiter_innen sprechen wir uns auch gegen die Einrichtung von AnKER-Zentren aus. Basierend auf unseren berufsethischen Prinzipien stellen wir uns gegen eine Kategorisierung von Menschen. Die Einteilung von Menschen mit hoher und geringer Bleibeperspektive aufgrund ihrer Nationalität ist diskriminierend. Wir richten unsere Arbeit an den Bedürfnissen der Menschen aus ¬– eine Isolation/Ausgrenzung von der Gesellschaft widerspricht diesem Grundsatz. Eine strukturelle Verweigerung von Wohnraum, Spracherwerb und gesellschaftlicher Teilhabe ist nicht mit den Grund- und Menschenrechten vereinbar. (Es entsteht eine große Diskrepanz zwischen den berufsethischen Prinzipien und den realen Gegebenheiten in den AnKER-Zentren.) Außerdem ist zu befürchten, dass Schutzsuchenden in den Zentren kein Zugang zu dezentraler, unabhängiger Rechtsberatung ermöglicht wird. Damit wird de facto die Rechtsschutzgarantie, die nach §8 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte den Anspruch auf einen wirksamen Rechtsbehelf beinhaltet, außer Kraft gesetzt. Besonders prekär ist die Situation für die Gruppe der besonders schutzbedürftigen Flüchtlinge. Die EU-Aufnahmerichtlinie über besonders schutzbedürftige Flüchtlinge (2013/33/EU) nennt Gruppen von Geflüchteten, die aufgrund ihrer besonderen Vulnerabilität besonders zu schützen sind. Aufgabe der Mitgliedstaaten ist es, diese zu identifizieren und ihren Zugang zu entsprechenden Angeboten zu gewährleisten. Allerdings können traumatisierte Menschen oftmals nicht binnen weniger Tage identifiziert werden. Es bedarf eines individuellen Vertrauensaufbaus zu den zuständigen Betreuer_innen. Dieser Prozess kann mehrere Monate dauern. Durch die Verfahrensweise der AnKER-Zentren wird den Betroffenen das Recht und die Möglichkeit genommen, tatsächlich als besonders Schutzbedürftige identifiziert zu werden und somit die tatsächlichen Asylgründe darzulegen zu können. Zu den besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen gehören z.B. Minderjährige; allein reisende Frauen; Menschen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben (wie z.B. Opfer von weiblicher Genitalverstümmelung) sowie Menschen mit Behinderung.

Mangelhafte Betreuung Traumatisierter

Für traumatisierte Menschen sind die zu erwartenden Bedingungen in AnKER-Zentren besonders problematisch. Traumatisierungen können ohne den Zugang zu psychologischem Sachverstand oft nicht erkannt und die besondere Schutzbedürftigkeit nicht festgestellt werden. Traumatisierte Geflüchtete brauchen geschützte Räume und ein Gefühl der Sicherheit, um über ihre Erlebnisse sprechen zu können. Unter den Bedingungen einer Massenunterkunft ist dies nicht zu gewährleisten. Die Gefahr, dass viele Opfer besonders von Folter oder anderen psychischen und physischen Gewalttaten unerkannt bleiben, steigt mit Einrichtung der AnKER-Zentren massiv. Gleichzeitig ist nur eine ärztliche Notfallversorgung für die Bewohner_innen der Zentren vorgesehen, so dass der Zugang zu einer unbedingt notwendigen Behandlung von Traumatisierungen nicht möglich ist. Aus Erfahrung ist bekannt, dass insbesondere traumatisierte Geflüchtete einer Unterstützung bei der Vorbereitung auf Asylanhörungen bedürfen, um eine Re-Traumatisierung während der Schilderung ihrer Erlebnisse von Verfolgung und Folter zu vermeiden. Dies ist jedoch ohne den Zugang zu unabhängigen Beratungsstrukturen nicht möglich.

Kindeswohlgefährdung

Die Unterbringung von Kindern in den AnKER-Zentren bedeutet eine Gefährdung des Kindeswohls, besonders, wenn Kindern der regelhafte Schulbesuch verweigert und so das Recht auf Bildung (Art. 28 UNKinderrechtskonvention) der Kinder ignoriert wird. Die UNICEF Studie „Kindheit im Wartezustand“ zeigt, wie nachteilig sich ein Zustand der Ungewissheit auf die kindliche Entwicklung auswirkt. Geflüchtete Kinder aus den so genannten sicheren Herkunftsstaaten würden mit großer Wahrscheinlichkeit in den AnKERZentren untergebracht. Gerade diese Gruppe erfährt nachweislich bereits in den existierenden Sammelunterkünften eine wachsende Ungleichbehandlung in allen Lebensbereichen (Gesundheit, Bildung, Teilhabe, Schutz usw.) gegenüber Kindern, die mit ihren Familien in eigenen Wohnungen wohnen. Außerdem würde der Zugang zu Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe beschränkt. Diese Ungleichbehandlung widerspricht dem im Grundgesetz festgelegten Verbot der Benachteiligung (Art. 3. Abs. 3 GG). In Konsequenz heißt diese strukturelle Unterversorgung an Leistungen und Diensten sowie der Mangel an professionellen Netzwerken, dass Mitarbeiter_innen in Jugendämtern und Allgemeinen Sozialen Diensten in einem massiven Dilemma gelassen werden, da Problemlagen unter diesen Rahmenbedingungen nicht bewältigt werden können. Dies führt letztlich dazu, dass diese vor der Wahl stehen, Kinder in kindeswohlgefährdenden Situationen - mit unklarer Rückkehrperspektive - aus ihren Familien herausnehmen zu müssen, sollen diese nicht in gefährdenden, aber prinzipiell zu bearbeitenden Problemkonstellationen zurückgelassen werden. Eine Bearbeitung der zugrunde liegenden Problemlagen sowie ein Nachkommen des Schutzauftrages ist somit, anders als dies in integrierten Wohn- und Unterkunftskonzepten möglich ist, nicht umsetzbar ohne damit grundlegend gegen Eltern- und/oder Kinderrechte zu verstossen. Dies aber widerspricht wiederum den berufsethischen Prinzipien. Die Massenunterkünfte stellen damit eine Gefährdung für das Kindeswohl selbst dar.

Rechtspopulistische Symbolpolitik

Die Kasernierung von über 1000 Geflüchteten in isolierter Lage bedeutet eine massive Stigmatisierung von schutzsuchenden Menschen. Es ist nicht gesichert, dass das erklärte Ziel beschleunigter Asylverfahren auf diesem Weg überhaupt erreicht wird. Dem Bundesinnenminister geht es daher vor allem um eine politische Geste. Damit bestätigt und stärkt er den Rechtpopulismus in diesem Land und betreibt die Spaltung der Gesellschaft.

Widerspruch aus professionellen Grundsätzen

Wir als Sozialarbeiter_innen wenden uns gegen die Einrichtung von AnKER-Zentren, weil damit den Menschen geschadet wird, deren Rechte und Autonomie wir versuchen zu schützen. Das Ziel von Sozialer Arbeit ist unter anderem, den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung von Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen zu fördern. Basierend darauf setzen wir uns gegen die Errichtung von noch größeren und restriktiveren Sammelunterkünften ein. Die Bundesregierung und der zuständige Innenminister sollten die Länder dabei unterstützen, allen geflüchteten Menschen unabhängig von ihrer Bleibeprognose eine menschenwürdige und dezentrale Unterkunft zu ermöglichen.

Quellen:

 

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